Bjar­te Breit­eig: Phan­tom­schmer­zen

Bjarte Breiteig: Phantomschmerzen

Bjar­te Breit­eig: Phan­tom­schmer­zen

Vor knapp drei Jah­ren pu­bli­zier­te der öster­rei­chi­sche Luft­schacht-Ver­lag sie­ben no­vel­len­ar­ti­ge Er­zäh­lun­gen des 1974 ge­bo­re­nen Nor­we­gers Bjar­te Breit­eig un­ter dem Ti­tel »Von nun an«, die 2006 in sei­nem Hei­mat­land er­schie­nen wa­ren. Es sind zum Teil sur­rea­le, im be­sten Sin­ne »selt­same«, oft ver­rät­sel­te und sich für den Le­ser kaum end­gül­tig er­schlie­ßen­de Er­zäh­lun­gen, die un­ge­ach­tet die­ser viel­leicht eher ab­schrecken­den At­tri­bu­te ih­ren ei­ge­nen Zau­ber und zu­wei­len ei­nen star­ken Sog er­zeu­gen. Jetzt legt der Ver­lag mit dem Band »Phan­tom­schmer­zen« nach. Hier fin­den sich auf knapp 130 Sei­ten 15 Er­zäh­lun­gen.

Was so­fort zum Ver­gleich auf­fällt: Die Qua­li­tät der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen dif­fe­riert stär­ker als in »Von nun an«. Ei­ni­ge spie­len mal mehr, mal we­ni­ger of­fen mit my­sti­schen Ele­men­ten, die meist de­zent hin­ein­ap­pli­ziert sind und ge­le­gent­lich ei­nen Kon­trast zur er­zähl­ten Geschich­te bil­den. So wird zum Bei­spiel in »Der Wind in den Wän­den« Ger­brand-Bak­ker-ge­mäss der Tod ei­nes dop­pel­köp­fi­gen Kal­bes auf ei­nem Bau­ern­hof, das ein nicht nä­her be­schrie­be­ner Jun­ge al­lei­ne zu be­treu­en hat, er­zählt. Wäh­rend­des­sen ist sein Va­ter bei der schein­bar schwer­kran­ken Mut­ter im Hos­pi­tal. Das Kälb­chen kommt als Tot­ge­burt auf die Welt und wird vom Jun­gen mit ei­ni­ger Kraft­an­stren­gung be­gra­ben. Als der Va­ter spä­ter ein­trifft, wird un­aus­ge­spro­chen der Tod der Mut­ter als so­zu­sa­gen par­al­le­les Er­eig­nis sug­ge­riert. Noch ein­mal, in »Klei­ne Brü­der«, spielt ei­ne nicht nä­her be­zeich­ne­te Krank­heit ei­ner Mut­ter ei­ne Rol­le, wäh­rend Arn­stein, ein klei­ner Jun­ge und of­fen­sicht­lich ihr Sohn, im Kran­ken­haus mit ei­nem klei­nen Mäd­chen spielt und nur sehr dif­fus ahnt, wes­we­gen er in die­sem Ge­bäu­de ist und was sich dort er­eig­net.

Aber nicht im­mer geht es der­art ge­heim­nis­voll zu. In »Die Flie­gen­klat­sche« wird in fast sa­ti­re­haf­ter Zu­spit­zung das Ver­hal­ten ei­nes al­ten Ehe­paa­res be­schrie­ben: die Frau ab­so­lut er­taubt – der Mann ir­gend­wie be­müht, die Kom­mu­ni­ka­ti­on auf­recht zu er­hal­ten. Als er merkt, dass die Frau ihn nicht ver­steht, sagt er un­sin­ni­ge Sät­ze, teil­wei­se blö­de Wort­spie­le, auf die sich die Frau ge­nö­tigt sieht, zu ant­wor­ten (sie er­rät nur noch das Ge­sag­te). Der ei­gent­li­che Ge­gen­stand der Er­zäh­lung ist die Jagd auf ei­ne Flie­ge.

Et­li­che Mo­ti­ve tau­chen wie­der­holt auf: So spie­len vie­le Ge­schich­ten an hei­ßen Sommer­tagen, die das Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen der Fi­gu­ren ein biss­chen trä­ger macht. Ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten lei­den un­ter fast chro­ni­scher Schlaf­lo­sig­keit. Häu­fig sind die Pro­tagonisten mit der Au­ßen­welt nur in ei­ner sehr ge­stör­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­bun­den. Dies führt zu gro­tesk-pein­li­chen, aber­wit­zi­gen aber auch be­droh­li­chen Si­tua­tio­nen. Da ist der Sohn, der mit sei­ner ver­wirr­ten Mut­ter aus Ver­le­gen­heit Hal­ma spielt und dann überraschender­weise ver­liert (»Et­was Gu­tes aus der Bäcke­rei«). In »Ver­schwun­den« kom­men zwei Brü­der wie­der zu­sam­men, nach­dem ein Jun­ge spur­los vom Hof ei­nes Bru­ders ver­schwunden ist und be­mer­ken, wie fremd sie sich ge­wor­den sind (und ein­an­der be­lau­ern). Da­bei bleibt das Schick­sal des Jun­gen un­klar, schwebt ge­wis­ser­ma­ßen über die­se bei­den Prot­ago­ni­sten, so als hät­te ei­ner von ih­nen et­was da­mit zu tun. Oder der in ein Mäd­chen ver­lieb­te Jun­ge, der ihr bis zu ih­rem Haus folgt und sie nun in ei­ner Mi­schung aus voy­eu­ri­sti­scher Gier und Schüch­tern­heit be­ob­ach­tet, sich sinn­los be­trinkt und dann in ei­nen Tau­mel der frem­den Hil­fe ge­rät (»Un­ter gel­ben, kran­ken Son­nen«).

In »Von nun an« ent­deck­te man beim ge­nau­en Le­sen auch im­mer ei­nen ver­bor­ge­nen, nur in An­sät­zen ahn­ba­ren Sub­text ei­ner dif­fu­sen Be­dro­hung oder na­hen­den Ka­ta­stro­phe. Dies mach­te die Ge­schich­ten im be­sten Sin­ne »dop­pel­deu­tig« und er­laub­ten ein gro­ßes Spiel an In­ter­pre­ta­ti­on. In den be­sten Mo­men­ten fühl­te man sich als Le­ser wie auf ei­ner schwan­kenden Hän­ge­brücke über ei­nem Ab­grund: das, was man dort sieht ist fas­zi­nie­rend – und den­noch soll­te man sich nicht ge­fan­gen neh­men las­sen vom An­blick, son­dern sei­nen Weg wei­ter­ge­hen. Im Er­mög­li­chen die­ses Blickes liegt je­doch die Kön­ner­schaft des Au­tors.

Von die­sem Hän­ge­brücken­er­leb­nis ist in den Ge­schich­ten in »Phan­tom­schmer­zen« bis auf we­ni­ge Aus­nah­men we­nig zu spü­ren. Und so setzt bald ein un­gu­tes Ge­fühl ein. Den Fi­gu­ren fehlt der Tief­gang, sie re­agie­ren nicht ab­grün­dig, son­dern ein­fach nur un­ver­ständ­lich. Das My­ste­riö­se, Ge­heim­nis­vol­le ist, falls vor­han­den, nicht nur nicht re­kon­stru­ier­bar, son­dern wirkt häu­fig auf­ge­setzt. Man­che In­sze­nie­run­gen äh­neln Slap­stick-In­stal­la­tio­nen bzw. sie wer­den da­zu; si­cher­lich un­frei­wil­lig. An­de­re sind kon­ven­tio­nell an­ge­ord­net und ar­bei­ten mit all­zu be­kann­ten Ver­satz­stücken (»Der ka­put­te Zaun« – die Angst der Ju­gend vor dem Al­ter; »Der er­ste Schnee« – hier steht das Sich-Über­ge­ben der Frau für Schwan­ger­schaft). Die gro­ße Kraft der zu­meist län­ge­ren Er­zäh­lun­gen aus »Von nun an« ha­be ich zu oft ver­misst.

Ein ge­nau­er Blick gibt ei­ne Er­klä­rung: »Phan­tom­schmer­zen« ist Breit­eigs De­but­band aus dem Jahr 1998; »Von nun an« war sein drit­tes Buch (2006). Wir ha­ben es al­so so­zu­sa­gen mit ei­ner nach­ge­tra­ge­nen Pu­bli­ka­ti­on im deutsch­spra­chi­gen Raum zu tun. Und plötz­lich stimmt es wie­der: »Von nun an« zeigt, dass sich Breit­eig zwi­schen 1998 und 2006 groß­artig wei­ter­ent­wickelt hat. »Phan­tom­schmer­zen« ist nicht mehr als ei­ne vielver­sprechende Ta­lent­pro­be. Was nicht be­deu­tet, dass dort grund­sätz­lich al­les schlecht ist. Aber ge­mes­sen an der Ent­wick­lung des Au­tors, die man be­reits vor drei Jah­ren be­wun­dern konn­te, sind sie von eher se­kun­dä­rer Be­deu­tung. Bei al­ler Kri­tik glau­be ich, dass min­de­stens zwei Er­zäh­lun­gen aus die­sem Band (»Nebel.Requiem« und »Ver­schwunden«) trotz­dem mü­he­los den In­ge­borg-Bach­mann-Preis ge­win­nen wür­den.